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"différance
IV + V"
Partiturlektüre
von Annette Hug und Patricia Purtschert
Vor dem Abschluss der fünfteiligen Serie drängt sich der Anfang
nochmal vor: Im Dunkeln wurden die Instrumentalklänge neu erprobt,
dann im zweiten Stück vernetzt und im dritten verfeinert. Und immer
war das Ziel, dass die Musik aus allen entsteht, die beteiligt sind -
in der Wahl der Geräusche, des Rhythmus, der Tonhöhe. Aber den
Anfang macht die Komposition. Ist Anfangen nicht immer ein einsames Machtwort?
Anfangen, schreibt Arendt, tut den Anderen Gewalt an, wenn es nicht mit
der Unabsehbarkeit ihrer Handlungen rechnet: Mechanik der Anderen anstatt
ihrer Einzigartigkeit, die sture Umsetzung eines bestehenden Plans anstatt
Offenheit für die Geschichte, die sich zwischen den Individuen entspinnt.
Darum, glaube ich, schreibt Meierhans ihrer Musik jene Momente der Offenheit
ein: Die Leerstellen in ihrer Partitur sollen von anderen, von der Musikerin,
dem Dirigenten, und in anderen Zeiten, zwei Tage vor dem Konzert oder
während der Aufführung geschrieben werden. Dennoch bleibt die
Frage, ob solche offene Stellen, welche die Positionen von Autor, Komponistin,
Dirigent, Musikerin ins Rotieren bringen, althergebrachte Hierarchien
wirklich verändern? Oder ermöglichen sie die Ahnung neuer Ordnungen?
Zuerst bringen sie die gegenwärtige Ordnung zum Bewusstsein. Im Probenprozess
treten Widerstände auf, aber auch Neugier, je nach Dirigent und Besetzung
provoziert "différance I-V" eine andere Geschichte. Das
Publikum kann aber aus der gehörten Musik diese Geschichte nicht
reproduzieren. Die Musik erzählt sie nicht. Was wir hören, ist
etwas Neues, das in einer speziellen Konstellation gemeinsam geschaffen
wird. Auch das ist nicht neu, es treibt auf die Spitze, was mit jedem
Orchesterwerk passiert. Meierhans feiert die Einmaligkeit der Aufführung
und bleibt in diesen fünf Stücken doch erkennbar als Komponistin,
welche die MusikerInnen dazu zwingt, ihre Instrumente in vorgegebenen
Geräuschen zu verfremden und sich an einer vorgegebenen Auswahl von
Tönen zu orientieren. Im Stück Nummer Fünf orientieren
sich die MusikerInnen nur noch aneinander und an einer Minimalpartitur.
Treibt Mela damit die eigene Konzeption auf die Spitze? Treibt sie das
Orchester in die Krise, damit noch nicht gehörte Möglichkeiten
Musik werden?
Treibt Meierhans das Orchester in die Krise oder greift sie eine immer
schon bestehende Krise des Orchesters auf? Wenn Musik auch davon lebt,
dass sie nie genau so tönt, wie die Komponistin sie geplant, der
Dirigent sie einstudiert, die Partitur sie dokumentiert hat, wenn also
ein beständiges Verfehlen des intendierten Werks die Musik mit ausmacht,
setzt Meierhans letztes Stück vielleicht genau da an. Impulse erreichen
die Musikerin und setzen sich von ihr aus fort. Sie führt weiter,
was ihr Vorgänger ihr zukommen lässt, und übergibt an ihre
Nachfolgerin. Anstatt immer schon das Gesamtgebilde, das es getreu umzusetzen
gilt, im Blick zu haben, gibt es nur noch eine Position im Geflecht der
Töne. Es gibt kein Jenseits des Moments mehr, von dem aus die Musik
kontrolliert werden soll und keinen Überblick mehr zu verlieren.
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