"ALMAH"



Kleine Geschichte zu: "ALMAH"; für Streichquartett und wandelndes Horn

Für die Komposition "Almah" ist nicht die Dauer des Sonnenlichteinfalls von entscheidender

Bedeutung, sondern der Augenblick des "An- und Abklingens", der 55 Zustandsänderungen

des Lichteinfalls, imZeitraffer (siehe Lichtpartitur).
Neben der formalen Auseinandersetzung mit Proportionen hat mich folgende Geschichte bei

meiner Arbeit an "Almah" beinflusst:
Ein gehörloses Kind, das durch den Wald lief, sah, wie die Sonnenstrahlen durch die Blätter

brachen und auf den Boden fielen. Es fragte: Machen diese Sonnenstrahlen einen Klang, ein

Geräusch, machen sie vielleicht "Klick", wenn sie den Boden berühren? Meine Antwort auf

diese Frage (in der bestehenden Komposition) bestand darin, dass für mich der Moment des

ersten (oder letzten) Auftreffens des Sonnenstrahls auf die jeweilige Oberfläche von

entscheidender Bedeutung war (Klick!). Ich habe mich also gleichsam "an den Rändern

des Lichteinfalls" bewegt. Wenn Sie die untere der beiden Lichtpartituren betrachten,

sehen Sie, dass jeweils nur der Beginn sowie das Ende des Lichteinfalls mit Farbe

bezeichnet ist.

m.m.


Mela Meierhans: ALMAH (1993 / 94)

Die Komposition ALMAH für Streichquartett und wandelndes Horn entstand auf Anfrage von

und in Zusammenarbeit mit der Architekturabteilung der ETH Zürich.

Mela Meierhans wurde beauftragt, eine konkrete Architektur in einer möglichst direkten

Übersetzung (z. B. der Proportionen) hörbar zu machen, wobei hier nicht eine rein technische

Eins-zu-Eins-Übertragung von einem Medium ins andere angestrebt, sondern - trotz aller

Nachvollziehbarkeit des Prozesses – der Interpretation der Architektur durch die Komponistin

Raum gegeben wurde. Als vorgegebenes Objekt dieser Translation diente Le Corbusiers

„musikalische“ Wallfahrtskapelle des Marienkultes Notre-Dame du Haut in Ronchamp

(daher auch der Titel des Stückes: „almah“ bedeutet auf Hebräisch einfach „junge Frau“,

in der Bibel, resp. im christlichen Bereich wurde der Begriff dann speziell auf die Jungfrau

und Gottesmutter Maria umgedeutet). Vor allem der durch das „phantastische Spiel des

Lichts“ erzeugte Klang der Südfassade mit ihren 25 teils farbigen Lichtöffnungen war der

Ausgangspunkt und die strukturelle Grundlage für die Komposition:

  • Die annähernde Übersetzung der geometrischen Proportionen dieses materiellen Wand-
  • Körpers (Flächen / Öffnungen) in die musikalischen Proportionen lieferte das für den
  • Klangkörper grundlegende Tonmaterial
    von 16 Tönen über fünf Oktaven:
    C / c/g / c1/e1/g1/b1 / c2/d2/e2/ges2/as2/b2 / des3/e3/f3

  • Der Umstand, daß die gesamte Wandfläche den Grund für die sich auf ihre im Tageslauf
  • bewegende Licht-Figur bildet, wurde direkt auf die Komposition übertragen.

  • Die Analyse des Sonnenlaufs während eines Tages (8. September, Mariä Geburt) mit
  • seinen verschiedenen Einfallswinkeln und –zeiten des Sonnenlichtes durch die bereits
  • erwähnten 25 Öffnungen ergab die „Licht-Partitur“ dieser Wand: Für jede dieser
  • Öffnungen konnte auf der jeweiligen Zelle der Partitur im Fortschreiten auf der
  • Zeitachse die Anfangs- und Endzeiten sowie die Dauer der Belichtung in drei
  • unterschiedlichen Qualitäten (Belichtung der Wandaußenseite der Öffnung, Belichtung
  • der Laibung der Öffnung und Lichteinfall in den Innenraum) festgehalten werden.
  • Insgesamt kommt es zu 55 solcher Zustandsänderungen (diesen entsprechen die
  • 55 Abschnitte der Partitur in 113 Takten. Ein Takt der Komposition entspricht einer
  • Zeitdauer von fünf Minuten des realen Sonnenlaufes.

    Die Komposition gliedert sich in drei Teile:

  • Der VOR-MITTAG (24 Abschnitte, 39 Takte) als Aufleuchten, Anklingen der Sonnenstrah-
  • len mit einer Initialfigur zu Beginn der jeweiligen Belichtungszeit als charakteristisches
  • Element dieses Teiles: der Moment des ersten Auftreffens des Sonnenstrahles auf der
  • jeweiligen Oberfläche wird als gleichsam entscheidend angehört, analog dazu auch das
  • Ende der jeweiligen Belichtungszeit (siehe NACH.MITTAG).
    Diese Interpretation des Belichtungsvorganges stellt das wesentliche Merkmal der
  • Komposition dar.

  • Der MITTAG (4 Abschnitte, 24 Takte) mit konstanten Tondauern ohne Pausen, da auch
  • der reale Lichteinfall sich in ruhiger Konstanz zeigt. Als Manifestation der Symmetrie
  • der Gesamtkomposition (wobei der Moment des Mittags um 12 Uhr die Symmetrieachse
  • der Komposition darstellt), entsteht in diesem Mittelteil eine „Krebsstruktur“
  • (in der Verteilung der Viertel pro Takt und des Tonmaterials):
    1/2/3/5/3/2/1/1/2 / 2/1/1/2/3/5/3/2/

    In diesemTeil löst sich das Horn durch freiere Behandlung des Tonmaterials in quasi
  • kontrapunktischer Weise aus dem mathematisch behandelten Ton-System der Wand,
  • bewegt sich auf der Raumachse des Kirchenschiffes (in der Kapelle in Ronchamp) hin
  • zu den Seitenaltären, um bis zum Ende dieses Abschnittes wieder am Ausgangspunkt
  • angelangt zu sein.

  • Der NACH-MITTAG (27 Abschnitte, 50 Takte) als Verschatten, Abklingen der Sonnen-
  • strahlen zeigt sich strukturell analog zum ersten Teil, jedoch dominiert hier das
  • „Abklingen“ der Belichtungszeit der einzelnen Lichtöffnungen in einer variierenden,
  • immer wiederkehrenden rhythmischen Figur.

Ein weiteres Element der Architektur- wie auch der Musik-Komposition ist deren generelle

arithmetische Strukturierung gemäß der Proportion des Goldenen Schnittes im Sinne einer

„Fibonacci-Reihe“ (MODULOR).

Die Komposition ALMAH soll als Abschluß der eingangs erwähnten Zusammenarbeit im Sinne

der direkten Gegenüberstellung (Konfrontation) von Architektur und Musik auch in Ronchamp

zur Aufführung gelangen.

Das Werk ist der Mutter der Komponistin gewidmet.

Matthias Kruppa, Architekt


Mela Meierhans: „Almah“ für Streichquartett und wandelndes Horn –

„Machen Sonnenstrahlen ein Geräusch, wenn auf eine Wand, auf den Boden fallen?“

„Auf diese Frage, einst von einem Kind gestellt, möchte ihr Werk eine Antwort sein. „Almah“,

mathematisch streng strukturiert, bildet im Zeitraffer die Raumproportion von Le Corbusiers

Ronchamp-Kapelle und den Gang des Sonnenlichtes im Sakralraum nach. Tatsächlich konnte

man die statischen, punktuell belebten und aufgerauhten Klänge teilweise so hören: Als

Qualitäten von Licht, seiner Stille, seinen Brechungen, seiner gleißenden Schärfe in der

Morgensonne, seinem porösen Zerbröckeln in der Nachmittagsschwüle und Abenddämmerung.

Wirklich illustrativ allerdings wird die nicht platt-linear, aber stufenweise entwickelte

Komposition lediglich im Mittel(Mittags-)Teil, wo die Horntöne melodisch zu fließen beginnen

und die Streicher beinahe schwelgerische Klänge in den Raum zauberten. Die Qualität des

immer wieder auch klangspröd wirkenden Stücks dürfte in dieser Verbindung einer formal-

strengen Logik mit einer klug dosierten Klangsinnlichkeit liegen: Eine Aufführung, die

neugierig machte auf eine Wiederbegegnung – natürlich in Ronchamp, wo das Stück in

naher Zukunft ebenfalls aufgeführt werden soll.“

Urs Mattenberger, LNN 13.02.1995, anläßlich der Uraufführung von „Almah“

 

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